ERBIN DER GÖTTER – NALEDI


Klappentext


„ES GIBT KEINE ZUFÄLLE!“

Naledi, mit einem „dämonischen“ Feuermal behaftet und als

Säugling ausgesetzt, wird im letzten Augenblick davor bewahrt,

gebrandmarkt und als Sklavin verkauft zu werden. Danach aber

nimmt ihr Retter Bero, bislang Sucher im Dienst der skrupellosen

Schuldensammlerin Recha, sich ihrer nur widerwillig an.

Seine Neugier und sein Kampfgeist regen sich jedoch, als beide

erkennen, dass ein Geheimnis Naledis sternförmiges Mal umgibt

und Verfolger ihnen auf den Fersen sind. Nach Lyff, seinem

ehemaligen Lehrmeister in den Kampfkünsten, taucht so allzu

bald auch Ises auf, eine weitere Sucherin und Beros einstige

Kampfgenossin, die noch  immer in Rechas Schuld steht!

Naledi wird tiefer und tiefer in Gefahren, Rätsel und Wahrheiten

verstrickt, die sich zwischen ihr, ihrem Mal, Bero und ihren

Verfolgern entspinnen. Welche beängstigende, übermenschliche Macht
schlummert da in ihr? Wie weit kann sie Bero vertrauen, warten

doch auch in dessen Innerstem bodenlose, bedrohliche Abgründe?!

Immerhin war er vollstreckender Arm der gnadenlosesten
aller Schuldensammlerinnen!


***

Taschenbuch, 12 x 19 cm, 700 Seiten
ISBN 978-3-7562-2829-4

E-Book
ISBN 978-3-7562-7217-4

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Leseprobe


Kapitel 1

Zagor, größte Stadt am südöstlichen Rand der Steinwüste

Das Gedränge der Menschen, der Lärm der Stimmen und Geräusche und der durchdringende Gestank nach Schweiß, Fäkalien, in der Sonnenwärme verderbenden Fisch- und Fleischabfällen sowie der Geruch der in den Garküchen angebotenen Mahlzeiten betäubten seine feinen Sinne. Die Vorzüge einer Stadt? Wohl kaum! Es kostete ihn Mühe, sich gegen all das abzuschotten, aber schließlich ebbten die Eindrücke ab. Stoisch und entschlossen bahnte er sich derweil seinen Weg über den überfüllten Platz und ignorierte das Fluchen derer, die er dabei anrempelte. Zuletzt warf er einem bettelnden Mann in schmutzstarrender Kleidung nichts weiter als einen kurzen, warnenden Blick zu. Das genügte, um diesen abwehrend die verkrüppelte Hand heben und – wie die vielen anderen zuvor schon – erschrocken zurücktaumeln zu lassen. Dabei stieß er gleich noch zwei weitere Bettler mit nässenden, eitrigen Wunden an den nackten Unterschenkeln und Armen beinahe um.
Schnaubend setzte er seinen Weg fort. Zagor hatte sich nicht verändert und würde es auch niemals. Er jedoch auch nicht. Oder vielleicht doch: Er hatte es vermocht, sich einen noch dickeren Panzer der Gleichgültigkeit und Härte zuzulegen – ein Umstand, den er als wohltuend und erleichternd empfand.
Die Sonne näherte sich bereits dem westlichen Horizont und er bewegte sich von ihr fort, die Kapuze seines grauen Umhangs tief in die Stirn gezogen. So verbarg er nicht nur seine auffallenden Augen, auch sein seit etlichen Tagen unrasiertes Gesicht lag im Schatten. Selbst seine Waffen – Schwerter, Messer und die Streitaxt – hatte er unter dem weiten Umhang verborgen. Ärgerlich umständlich, aber notwendig, wenn er sie bei sich tragen und doch möglichst unauffällig bleiben wollte. Und auffallen wollte er hier auf keinen Fall! Sein Aufenthalt hier sollte im Gegenteil so kurz wie möglich gehalten sein und die Person, die er hier aufsuchen wollte ...
Grunzend berichtigte er sich selbst und warf einen scharfen Blick über seine Schulter: Die Person, die er hier aufzusuchen gezwungen war, würde hoffentlich mit dem heutigen Tag endgültig aus seinem Leben verschwinden. Freiheit wie auch Schuldenfreiheit waren schwer zu erlangen und seinen Weg dorthin hatte er oft genug beinahe mit dem Leben bezahlt.
Als er sein Augenmerk wieder nach vorne richtete und eben um die nächste Ecke in eine etwas weniger belebte Gasse biegen wollte, blähte ein Windstoß Umhang und Kapuze für einen Augenblick. Ein kleines Mädchen schräg vor ihm stieß prompt einen erschrockenen Laut aus und rannte hastig davon. Im gleichen Moment aber weckte auch etwas in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit. Er blieb abrupt stehen, drehte den Kopf erneut und ließ seinen durchdringenden Blick über die breite Straße schweifen, die er soeben verlassen wollte.
Alles schien wie zuvor: Hier Menschen mit Waren in ihren Körben, Kisten, Säcken und Karren, dazwischen sich drängende Käufer, die gegen Tagesende vermutlich auf niedrigere Preise hofften. Irgendwo in einer dunklen Gasse johlten ein paar Männer, vermutlich sturzbetrunken. Dort ein magerer Junge, der mit dem soeben gestohlenen, seit dem Morgen sicher längst trocken gewordenen Brot davonstürzte und ein hinter ihm herfluchender Bäcker. Weiter vorne zwei streitende ältere Weiber, die sich nun gegenseitig an den Haaren zogen, plärrende Kinder, aufflatternde Raben, zwei Straßenhunde, die knurrend und bellend um irgendetwas Fressbares kämpften. Zwischen alldem jener kahlköpfige, rotbärtige Sklavenhändler, den er bei seiner Ankunft auf dem Weg zum Mietstall bereits gehört und gesehen hatte. Nicht zu vergessen dessen beiden Gehilfen und zwei offenbar unfähige Wachen, die vier aneinandergekettete Menschen zwischen sich führten: zwei ältere Männer mit von Sonne und Wetter gegerbter Haut, eine hellhäutige und -haarige Frau mittleren Alters, deren linkes Bein kürzer als das rechte war, sowie eine junge Frau mit langen, braunen Haaren. Ihr Hautton deutete eher auf einen Mischling hin. Und eine fette Ratte, die soeben von einem lauernden Kater angesprungen wurde und auf ihrer Flucht jenem Sklavenhändler zwischen die Füße geriet ...
Zagor. Stinkende, überfüllte Stadt am Ende eines gewöhnlichen Markttags. Was immer dieser Eindruck gewesen war, er war verschwunden. Oder nur Einbildung gewesen.
Die Häuserecke versperrte ihm sogleich die Sicht, als er weiterging.
...
Er fluchte lautlos, als er dennoch erneut abrupt innehielt, sich umwandte und noch einmal um die Ecke spähte, diesmal dicht an der Hauswand stehend. Es mochte nur ein Gefühl gewesen sein, aber er hatte gelernt, auf seine Eindrücke zu vertrauen.
...
Das Bild war das gleiche.
Die Fensteröffnungen ... leere Dächer ... erste Händler, die ihre letzten Waren zusammenpackten ...
Ein Zupfen an seinem Umhang.
„Herr? Braucht Ihr einen Führer? Ich kenne mich hier aus und für eine Kupfermünze ...“
Er wirbelte herum und verzog wütend das Gesicht, als der knochendürre Junge zu spät reagierte und rücklings auf den Boden fiel, mitten in irgendeinen Schmutzhaufen undefinierbarer Herkunft.
„Verschwinde!“, knurrte er, doch diese Warnung war überflüssig, denn der Bursche krabbelte bereits rückwärts von ihm fort, bevor er sich aufrappelte und davonstürzte.
Was immer dieser Eindruck gewesen war, er war fort. Zeit, den Lohn für seinen letzten Auftrag einzufordern.

-

Der kühle Schauder, der mir für einen kurzen Moment die Nackenhärchen aufzurichten schien, war verschwunden, als wir von der Straße ab- und in den Zugang zu jenem Hinterhof einbogen. Aber mir blieb ohnehin keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Orbas Befehl war knapp und unmissverständlich:
„Rauf da, los doch! Und ihr nehmt ihnen die Ketten ab und kontrolliert sie auf Wunden. Aufgescheuerte Knöchel drücken den Preis, genauso wie verhungert aussehende Gerippe. Also sorgt dafür, dass sie ihre Ration Brot und Wasser bekommen. Wofür bezahle ich euch eigentlich? Muss ich euch jeden Tag aufs Neue alles vorbeten? Nichtsnutzige Hohlköpfe!“
Ich sah erst gar nicht auf, als die Helfer unter den wachsamen Augen der beiden gedungenen Wachen zuletzt auch mir grob erst die Fuß- und dann auch die Handfesseln öffneten, bevor das Gitter des Käfigs zufiel und sorgfältig versperrt wurde.
Zum vierten Mal in vier Tagen landete ich am Abend wieder hier in diesem Wagen. Morgen würde Orba auch meinen Preis herabsetzen. Übermorgen wollte er die Stadt verlassen und bis dahin den kümmerlichen Rest seiner menschlichen Ware loswerden, um sich nicht länger mit ihnen zu belasten. Sein Weg würde ihn zurück zu seinem Schiff und über das Meer führen, neue Sklaven zu fangen. Wenn er mich nicht endlich als Haus- oder Feldsklavin losschlagen könne, werde es eben ein Hurenhaus werden.
Auch jetzt, unmittelbar bevor er sich zur Nacht wieder in das Gasthaus begeben würde, in dessen schmuddeligem, engem Hinterhof dieser Wagen mit dem aufgesetzten Gatterkasten stand, warf er mir einen wütenden Blick zu. Einen Blick, der mir geraten erscheinen ließ, mich wieder still in eine Ecke zurückzuziehen.
Schnaubend musterte er mich dennoch und schnaubend winkte er einem seiner Helfer.
„Wo findet man hier den nächsten Schmied oder Hufschmied?“
„In der Nähe des Stadttores. Aber wozu braucht Ihr einen? Die Pferde sind erst kürzlich beschla...“
„Du Spatzenhirn, das weiß ich selbst! Die da war ein schlechter Kauf und ich habe keine Lust, weniger für sie zu bekommen, als ich selbst ausgegeben habe. Schon genug, dass sie seit Tagen mein Brot frisst. Sobald die Leute ihr Feuermal sehen, will sie niemand mehr haben. Abergläubisches Pack ... Ich will wissen, ob man ihr es ausbrennen oder mit einem Zeichen überdecken kann. Lieber ein Brandzeichen als das da, kapiert?“
„Ja, Herr, verstehe.“
„Gut für dich! Jetzt beweg verdammt noch mal deinen faulen Hintern und versorg sie! Und wehe, die Wachen schlafen wieder ein! Das da ist mein Eigentum und wenn du nicht darauf aufpassen kannst, kannst du sehen, wo du bleibst!“
„Ja, Herr. Ich werde ...“
Orba wartete seine Antwort gar nicht mehr ab, sondern kehrte ihm fluchend den Rücken zu und stapfte davon.
Jeder im Hof hatte seine Worte hören können, auch die anderen drei Sklaven – die mich mieden wie eine Aussätzige, seit sie das Mal an meinem Oberarm bemerkt hatten.
Ich zog die Beine an, schlang meine Arme um die Unterschenkel und legte die Stirn auf meine Knie. Eine weitere Nacht, noch dazu eine in der Furcht, von einem glühenden Eisen gebrandmarkt zu werden.
Und doch eine Nacht mehr, in der ich am Leben war.

-

Das Haus war groß und beeindruckend, nicht nur weil es im besten Viertel in unmittelbarer Nähe zum großen Marktplatz lag. Das traf auf viele stattliche Häuser zu. Dieses jedoch stach heraus: Seine Fenster waren auffallend groß, die massive Eingangstür gleich doppelflügelig und mit aufwändigen gusseisernen Verzierungen beschlagen und die Sandsteinmauer der Fassade reich mit kunstvollen Steinmetzarbeiten verziert: Drachenköpfe mit weit aufgerissenen, hauerbewehrten, feuerspeienden Mäulern, die sich bezeichnenderweise mit Ranken dornenbewehrter Pflanzen abwechselten. Das Auffallendste aber war der kleine Rundturm am First über dem Eingang, von dessen Spitze aus man sogar über die Stadtmauer hinweg blicken konnte. Seine Lichtöffnungen und Scharten jedoch wirkten dunkel, fast schwarz, und er erinnerte sich nur zu gut daran, dass auch der schmale, gewendelte Treppenaufgang dort hinauf finster war.
Dreimal schlug er mit der Faust gegen die massive Tür und nur fünf Herzschläge später öffnete der alte Mann sie. Mühsamer als früher.
„Führ mich zu deiner Herrin“, forderte er ohne jeden Gruß.
„Willkommen zurück. Tretet ein, Ihr werdet bereits erwartet“, verneigte er sich – weniger tief und deutlich schwankender als früher.
Das Innere des Hauses empfing ihn wie so oft mit erfrischender Kühle und Stille. Auch das Dämmerlicht war einmal mehr eine Wohltat für seine Sinne. Noch immer war dieser Bereich des Gebäudes kahl und karg und während er äußerlich gelassen wartete, dass der schwächliche Alte die Tür endlich wieder zuschob, rief er sich die Anordnung der Räume, Flure und Ausgänge ins Gedächtnis zurück. Beinahe fünf Jahre seines Lebens hatte er hier verbracht, bevor er ...
„Folgt mir, hier entlang“, unterbrach der Greis seine Erinnerungen. Vor ihm herschlurfend geleitete er ihn geradewegs auf die Tür zu, die zum Speiseraum führte. Sie aß also noch immer zeitig zu Abend.
„Hier herein“, öffnete er nach kurzem Anklopfen und ohne auf eine Aufforderung zum Eintreten zu warten.
„Du bist zwei Tage zu spät“, verzichtete auch sie auf einen Gruß. „Was hat dich aufgehalten? War dein Auftrag zu schwer oder bist du zu guter Letzt zu zögerlich geworden? Zu alt ganz sicher nicht, du bist in der Blüte deiner Leistungsfähigkeit! In jeder Hinsicht, würde ich meinen“, endete sie doppeldeutig.
Noch immer, nach all den Jahren, klang ihre Stimme klar und jung, voller Lebendigkeit. Niemand kannte ihr wahres Alter, doch sie musste inzwischen über sechzig Jahre alt sein und es war ihm ein Rätsel, woher sie ihre jugendliche Stärke nahm. Nicht einmal die weißen Strähnen über ihrer Stirn und an den Schläfen ließen einen Schluss auf ihre inzwischen verstrichenen Lebensjahre zu, sie wirkte nahezu alterslos, wie sie so dasaß. Dasaß wie eine Spinne in ihrem Netz, die ihre Beute zu sich kommen ließ. Er konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass sie dieses Haus je verlassen hätte. Nicht durch den Haupteingang, nicht, während er sich hier aufgehalten hatte. Was gleichbedeutend war mit: Wann immer es ihr beliebte und vermutlich auch durch Pforten und auf Wegen, die selbst er nicht entdeckt hatte.
„Ich bin pünktlich, wie du sehr wohl weißt“, widersprach er kalt. „Ich sagte schon bei meinem Aufbruch, dass ich es in der von dir anberaumten Zeit nicht schaffen würde. Mir hätten schon Flügel wachsen müssen. Und nein, der Auftrag war nicht zu schwer, wie es auch die anderen zuvor nicht waren. Was Zögerlichkeit ist, wirst du mir jedoch erklären müssen, ich kenne dieses Wort nicht.“
Ihre grazile Gestalt hinter dem Tisch täuschte nicht darüber hinweg, dass auch sie über beachtliche Fähigkeiten in Kampf und Selbstverteidigung verfügte. Tatsächlich war sie ihm in seinen jungen Jahren in so mancher Hinsicht durchaus überlegen gewesen. Wie es sich hierin jetzt verhielt, war zumindest noch unsicher. Und noch immer argwöhnte er, dass sie niemals jemanden ihre wahre Kunst und Stärke sehen ließ, denn das hieß stets, sich dem Gegner gegenüber eines entscheidenden Vorteils zu berauben.
Sie winkte ihn näher und ihr nahezu faltenloses Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln.
„Leg deinen Umhang und die Waffen ab. Gorgo? Wasserschüssel und Tuch für meinen Gast, er wird sich wenigstens grob vom Staub seiner Reise befreien, denn er wird mit mir speisen. Sorgt auch für ein heißes Bad und frische Kleidung, es sollte sich noch genügend in einer seiner Truhen befinden. Es soll ihm hier an nichts mangeln.“
„Ich danke, aber ich gedenke, diese Stadt noch vor Toresschluss wieder zu verlassen.“
„So? Nun, ich fürchte, dich enttäuschen zu müssen. Für heute Nacht solltest du besser als mein Gast in meinem Haus bleiben. Morgen früh geht eine Karawane in Richtung Norden, eine weitere übermorgen in Richtung Meer. Einer der beiden kannst du dich anschließen.“
Mit einer langsamen Bewegung schob er die Kapuze nach hinten und funkelte sie mit bewusst forschendem Blick an.
„Gastfreundschaft? Ohne Gegenleistung? Weshalb? Werdet Ihr zum Abschied am Ende rührselig? Ohne einen triftigen Grund werde ich nicht von meinen Plänen abweichen!“
Sie lachte leise, dann winkte sie ihrem Diener mit unmissverständlicher Geste, ihren Anweisungen Folge zu leisten.
„Dein Kommen wurde bemerkt. Aus welchem Grund auch immer dein Können, unsichtbar zu bleiben, in Zagor versagt ... Was die Bettler weitertragen, findet Eingang auch in das Ohr der Wachsoldaten. Lerne, wie ein normaler Mensch Mitleid zu zeigen, und man wird in dir nur einen normalen Menschen sehen. Lerne, Mensch unter Menschen zu sein, und du verschreckst niemanden.“
Mitleid! Etwas, das sie zeitlebens nie gekannt hatte! Doch bevor er etwas hätte sagen können, waren bereits zwei weitere Diener eingetreten und sie fuhr unbeeindruckt fort:
„Und jetzt gehorche mir, Sucher, es ist zu deinem Besten! Nehmt ihm den staubigen Umhang ab und legt seine Waffen griffbereit neben der Tür auf den Tisch, das sollte seinem Sicherheitsbedürfnis genügen.“
Er zögerte kurz, dann nickte er den beiden Burschen sein Einverständnis zu. Es brodelte jedoch in seinem Inneren, während er ihrer Aufforderung nachkam. Es war eine Sache, jetzt noch einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Etwas, dem er nicht aus dem Weg gegangen wäre. Etwas, das er nach all den Jahren fast schon herbeisehnte. Eine ganz andere Sache aber war, sich möglicherweise tatsächlich mit einem Haufen Wachsoldaten anzulegen, von denen einige seit seinem letzten Aufenthalt innerhalb dieser Stadtmauern nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Verflucht sei jener Abend, jene Taverne, das willige Schankmädchen und sein dank des schweren Weins gelöstes Mundwerk! Eine Kombination, die zusammen mit seiner aufgestauten Wut ein ungutes Ende genommen hatte. Eine Kombination, zu der er es niemals wieder kommen lassen würde!
„Woher wissen sie von meiner Ankunft? Ich weiß genau, dass sie mich nicht bemerkt haben. Um diese Zeit herrscht großes Gedränge an den Toren. ... Oh, verstehe. Die Münder der Bettler sind aus gutem Grund verschlossen gegen die Wachen. Es sei denn, du hast sie aufgefordert, ganz bestimmten Wachposten Nachricht über mein Eintreffen zu geben!“, ging nun auch er zum Du über.
Diesmal kicherte sie und wedelte halbherzig mit der Hand.
„Erraten. Morgen früh werden andere an den Toren stehen und niemand wird dich aufhalten. Um der Wahrheit also die Ehre zu geben: Ich wollte noch einmal Zeit mit dir verbringen. Sagen wir einfach, um der alten Zeiten willen. Um in Erinnerungen zu schwelgen.“
Er schnaubte betont laut, verhielt mitten in der Bewegung und hielt ihren Blick fest, worauf hin sie ebenso betont seufzte und das Lächeln von ihrem Gesicht verschwand. Ihr Ton wurde sachlich.
„Also schön, Sucher, wie du meinst. Du hast deinen Auftrag erfüllt?“
„Wortgetreu.“
„Wo ist es?“
„Wie du es wünschtest, habe ich es der Aufseherin im Tempel in Bursal übergeben.“
„Alles ging reibungslos vonstatten? Zeugen?“
„Ich habe dafür gesorgt, dass es keine gibt. Zwei Sklaven musste ich daher töten und ihre Leichen verschwinden lassen, beim Herrn und der Herrin des Anwesens genügte ein starkes Betäubungsmittel im Abendessen.“
„Spuren?“
„Ich hinterlasse keine Spuren! Was sie finden konnten, waren Hinweise, die auf eine Entführung deuten, an der die beiden Sklaven beteiligt waren. Beleidige mich nicht, ich bin kein Anfänger!“
Ihr Mund verzog sich erneut zu einem Lächeln, doch diesmal war es kalt und berechnend. Sie beugte sich leicht vor, die tiefblauen Augen zusammengekniffen.
„Es ist also sichergestellt, dass es weder aufgefunden werden kann, noch jemals wieder einen Fuß aus diesem Tempel heraus setzt? Niemand außer dir und mir weiß, wo es ist?“
Er kümmerte sich wie stets nicht um Regeln oder Manieren, als er nicht nur seine Hände in der angereichten Wasserschale reinigte, sondern gleich reichlich Wasser schwungvoll in sein Gesicht beförderte, bevor er sich mit dem nach Blüten duftenden Tuch abtrocknete. Der kostbare Teppich unter seinen staubbedeckten Stiefeln würde wasserfleckig werden, doch das interessierte ihn nicht. Auch seine ‚Gastgeberin‘ ließ dies unkommentiert.
Diesmal jedoch nahm er sich Zeit mit der Antwort und ließ sich erst auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder. Sie hatte ihn tatsächlich erwartet, denn dieser Platz war gedeckt, die Speisen noch warm, wenn nicht gar heiß. Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich zu fragen, woher sie wusste, was sie wusste und woher ihre Fähigkeiten rührten. Jetzt jedoch flackerte diese Frage wieder in ihm auf.
„Ja. Eure großzügige Zuwendung an den Tempel war nur eines der überzeugenden Argumente für die Aufseherin. Zumindest genauso überzeugend dürfte aber meine Drohung gewesen sein, sie zu foltern und zu verstümmeln, wenn sie oder jemand in ihrem Auftrag je nach seiner Herkunft forschen werde. Oder sie beide zu töten, wenn es den Tempel verlassen würde.
Was den Rest angeht: Nur zu bald wird es ohnehin keine Erinnerung mehr an sein ehemaliges Zuhause haben – wenn es die überhaupt schon hat. Ein ungewolltes Bastardkind unter zahllosen. Willkommene Tempeldienerin, der es an nichts mangeln wird. Außer an Freiheit.“
Sein Gegenüber ließ sich wieder zurücksinken und mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen winkte sie einen der Burschen heran, Wein einzugießen. Er wartete jedoch nicht, sondern nahm sich mit der Linken von den bereitstehenden Platten, um sich seinen Teller vollzuladen, während er mit der Rechten den von außen beschlagenen Krug griff und sich großzügig einschenkte.
„Bring mir Wasser zum Verdünnen“, forderte er jedoch und sie nickte schmunzelnd.
„Dann ist es getan und du hast ein weiteres Mal deinen Auftrag erfüllt. Dein Anteil an der Entlohnung ...“, deutete sie mit dem Kopf in Richtung Tür, doch er warf nur einen kurzen Blick auf den prall gefüllten Geldbeutel, den der Alte soeben dort neben seinen Schwertern ablegte. Goldmünzen, die sicherlich kaum annähernd den Wert des kaum ein Jahr alten Mädchens aufwogen. Schon gar nicht den Wert seines Lebens! Eines Tages würde sein Gegenüber vermutlich ein Zehn- oder Zwanzigfaches seines heute ausgezahlten Lohnes von den Eltern fordern dafür, ihnen ihre Tochter wieder zuzuführen.
„Nicht die einzige Entlohnung“, nuschelte er dennoch mit vollem Mund und nickte in Richtung ihrer beringten Hand.
„Es ist nicht sehr höflich, seine Gast- und gleichzeitig Auftraggeberin daran zu erinnern ...“
„Ich war noch nie höflich. Weshalb sollte ich jetzt damit beginnen?“ Er spülte den Bissen mit einem kräftigen Schluck herunter und nickte, als der junge Diener mit dem Wasserkrug herantrat, um den Becher aufzufüllen.
„Ja, warum solltest du?“, hob sie ihren Becher, prostete ihm zu und nippte dann daran. „Plaudern wir doch nun ein wenig! Was willst du fortan mit deinem Leben anfangen, Sucher? Was wird jetzt deine Bestimmung sein, hm?“
„Das lass meine Sorge sein.“
„Oh, ich sorge mich nicht darum. Oder um dich. Ich kenne jedoch Männer und Frauen wie dich, die, nachdem sie ihre Freiheit erworben haben, rat- und rastlos umherziehen und zuletzt doch wieder das tun, was sie annähernd zeit ihres Lebens getan haben: Entweder sie verdingen sich wieder als Sucher zu höheren Löhnen oder sie werden zu Söldnern und Auftragsnehmern. Wer einmal Blut vergossen hat und dem Tod oft genug ins Gesicht sah, kann nicht mehr ohne dies sein. Meine Frage war aus reiner Neugier geboren. Ich wäre sogar einer kleinen Wette nicht abgeneigt, was meinst du?“
Er tunkte ein Brotstück in das Fett seines Bratenstücks und schob es sich in den Mund, wischte Mund und Kinn mit dem Ärmel ab und hielt ihren amüsierten Blick fest.
„Eine Wette? Ob ich es ihnen gleichtun oder einen anderen Sinn und Inhalt für mein Leben finde?“
„Richtig.“
Ein weiterer Bissen – diesmal ein riesiges Stück Fleisch – wanderte zu dem Brot in seinen Mund und zum ersten Mal seit seiner Ankunft verzog ein Grinsen sein Gesicht.
„Lass es darauf ankommen. Wenn du von den anderen weißt, dann wirst du es irgendwann auch von mir wissen. Sag mir ...“, nahm er einen weiteren Schluck und stellte dann den beinahe geleerten Becher fort, rülpste in voller Absicht laut und fixierte sie erheitert, bevor er völlig unvermittelt wieder ernst wurde. „Sag mir, wie du es anstellst! Du hast deine Augen und Ohren überall, weil du deine Spitzel überall hast. Aber das kann es nicht alleine sein. Welche schwarzen Künste übst du aus, um all das zu wissen, was du weißt?“
Sie legte ihre Gabel fort, lehnte sich entspannt zurück, beide Arme auf die Lehnen ihres Stuhls gelegt. Dann schmunzelte sie, kicherte und lachte zuletzt.
„Ich habe mich schon lange gefragt, wann du mir diese Frage stellen würdest. Fast habe ich geglaubt, du würdest nie fragen.“
„Und?“
Ihre Augen funkelten, als sie sich wieder vorbeugte und die Hände rechts und links neben ihrem Teller ablegte. Hände, die er in jenen fünf Jahren oft genug siegreich hatte kämpfen sehen.
„Meine Antwort werde ich dir geben, wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen.“
Er lachte auf, nahm einen letzten Schluck Wein, schob dann seinen kaum zur Hälfte geleerten Teller fort und erhob sich.
„Mit anderen Worten: Ich werde es nie erfahren, denn morgen trennen sich unsere Wege endgültig. Meine Schulden sind beglichen, mein letzter Lohn liegt dort, den Ring, der meine Freiheit besiegelt, wirst du mir geben, noch bevor ich diesen Raum verlasse. Und neue Schulden werde ich bei dir nicht machen, also werden unsere Pfade sich nicht mehr kreuzen, es sei denn, zufällig und unbeabsichtigt.“
Ihr rechter Mundwinkel wie auch ihre rechte Augenbraue hoben sich zu einem eigenartigen und gleichzeitig spöttischen Schmunzeln. Dann zog sie einen goldenen Ring mit umlaufender Gravur aus seltsamen Zeichen von ihrem Daumen und warf ihn gekonnt in hohem Bogen quer über den Tisch in seine Richtung. Seine Hand schoss reflexartig vor, schloss sich blitzschnell um den glänzenden Reif und nur einen Augenblick später hatte er ihn sich an den linken Ringfinger geschoben.
„Alle Schulden sind getilgt“, betonte er mit tiefer Stimme. „Und da du mich als Gast bezeichnet und eingeladen hast: Hab Dank für die kostenlose Mahlzeit samt Bett zur Nacht. Ich werde morgen in aller Frühe aufbrechen, also sage ich jetzt lebwohl. Achte auf dich, Recha von Zagor, denn eines Tages werden dir deine Art und deine Geheimnisse zum Verhängnis.“
Er neigte den Kopf so knapp, dass man es fast hätte übersehen können. Noch während er seine Waffen und den prallen Geldbeutel einsammelte, hörte er ihr leises Lachen.
„Es gibt keine Zufälle, Bero von Zagor.“
Eine Ansicht, die er teilte, doch das behielt er für sich.
„Alles hat seinen Sinn, seinen Zweck und seine Bestimmung. Deine ist es, ein Sucher zu sein. Anderen gegenüber kannst du dies leugnen, aber nicht vor mir. Und auch nicht vor dir selbst“, setzte sie hinzu.
Er kniff die Augen zusammen, wandte sich jedoch zur Tür, ohne darauf zu antworten. Erst als seine freie Hand schon auf dem Türgriff lag, hielt er inne, denn zum ersten Mal seit langer Zeit vermochten ihre Worte, ihn zu überraschen:
„Was, wenn ich dir anbieten würde, dass ich in deiner Schuld stünde? Für einen weiteren, einen letzten Auftrag, der dich nicht einmal weit fort von hier führen würde.“
Etwas Animalisches in ihm glühte auf, brannte in seiner Brust und leckte gierig an seinem Willen, so wie Flammen an trockenen Reisern leckten. Recha die Schuldensammlerin in seiner Schuld! Diese Aussicht war derart verlockend, dass sein Herz vor Begehrlichkeit schneller schlug. Er lechzte regelrecht danach, seinerseits nach all dieser Zeit eine Forderung an sie stellen zu dürfen, die sie nicht würde ausschlagen können!
„Ich sehe, ich habe dein Interesse geweckt.“
Noch immer zögerte er, die Hand am Griff.
„Ich hätte jedoch vermutet, dass du sofort gierig einwilligst! Wo bleibt dein Wunsch, es mir heimzuzahlen, Sucher? Rache für die geraubten Jahre, die zahllosen Aufträge, die ich dir erteilt habe und die dir einer nach dem anderen Stück für Stück deine Seele nahmen! Rache dafür, dass du ungezählte Male dein Leben aufs Spiel setzen musstest, nur weil ich es dich hieß! Oder solltest du doch zu zögerlich geworden sein? Lieber kein Risiko mehr eingehen, jetzt, da du die Freiheit hast, zu gehen, wohin der Wind dich treibt?“
Nach wie vor verharrte er, ihr den Rücken zukehrend und dem unentschiedenen Pendeln zwischen dem Tier und seinem Selbst in seinem Inneren nachspürend.
„Und?“, fragte sie schließlich. „Ich bin kein besonders geduldiger Mensch!“
‚Entscheide schnell und stets der Vernunft gehorchend! Gib einem Gefühl nach bei einer Entscheidung, und du bist verloren!‘, hörte er die mahnenden Worte seines einstigen Lehrers in seinem Geist.
„Ich denke darüber nach und lasse es dich wissen“, beschied er sogleich gepresst.
„Willst du mich zappeln lassen? Oder soll ich bitten? Weder das eine noch das andere wird geschehen, Bero. Mein Angebot gilt bis zum morgigen Sonnenaufgang. Danach werde ich einen meiner anderen Sucher oder Sucherinnen damit beauftragen.“
„Wenn die Zeit derart drängt und du weitere Sucher hast, die noch dazu in deiner Schuld stehen, weshalb gehst du dann das Risiko ein, mir eine Schuldigkeit anzubieten? Wo ist der Haken?“, drehte er sich halb herum, behielt die Hand jedoch am Türgriff.
„Eben weil die Zeit drängt und weil dieser Auftrag nach dem Besten verlangt. Ich sagte lediglich, dass er dich nicht weit wegführen würde, nicht, dass er leicht zu erfüllen ist. Was sagst du?“
„Dass ich Einzelheiten hören will, bevor ich eine Entscheidung treffe“, knurrte er.
Ihre Augen wurden schlagartig schmal.
„Du weißt genau, dass dies gegen jegliche Vereinbarung wäre!“
„Nicht ich bin es, der etwas von dir will, du willst etwas von mir. Meine Regeln, nicht die deinen. Ich wähle fortan aus, wohin mich mein Weg führt und womit ich mich befassen werde. Wie also entscheidest du?“
Ihre Augen bohrten ihren Blick mehrere Herzschläge lang in den seinen, doch dieser Art von Einschüchterungsversuch war er längst gewachsen.
„Du musst eine junge Frau finden, töten und ihren Leichnam unbemerkt aus den Mauern dieser Stadt schaffen. Sie darf niemals gefunden, geschweige denn, wiedererkannt werden.“
„Weshalb kein Unfalltod?“
„Eine Möglichkeit, die diesmal nahezu unmöglich wäre. Weil nicht einmal der Schatten eines Zweifels aufkommen darf. Schon gar nicht dürfte ihr Tod oder Verschwinden mit mir in Zusammenhang gebracht werden.“
Er zog die Augenbrauen zusammen und eine tiefe Falte entstand über seiner Nasenwurzel.
„Du weißt sehr wohl, dass bislang nie jemand an meinen Scheinbeweisen etwas Verdächtiges fand.“
„Mein Auftrag, meine Forderungen und Anweisungen. Sie stehen nicht zur Diskussion.“
„Wer ist die Frau und was hat sie dir getan, dass du ihren Tod wünschst? Was bedeutet sie dir, dass du dich in meine Schuldforderung zu begeben bereit bist?“
Sie lehnte sich zurück und wirkte entspannt wie zuvor.
„Nichts. Es geht nicht um mich, Sucher. Sie ist nur ein Auftrag, den ich erhielt und an dich weitergebe. Muss ich dich erinnern, dass ich dafür garantiere, dass jeder angenommene Auftrag erfüllt wird? Rechtzeitig? Mir persönlich bedeutet sie nichts und wäre es nicht ein Auftrag, der innerhalb dieser Stadt läge ...“
Deshalb schloss sie einen vorgetäuschten Unfalltod aus?
„Etwas, das du früher niemals angenommen hättest. Weshalb also jetzt? Bist du Zagors müde?“
Gedachte sie etwa, dieses Haus hier aufzugeben und in eine andere Stadt zu ziehen? Möglich wäre es, denn ihr Name war in großen Teilen des Reichs bekannt, ihr Ruf eilte ihr voraus. Zumindest in der Welt der finsteren Wünsche, Begehrlichkeiten und der Häscher. Doch sie blieb ihm auch diese Antwort schuldig.
„Du gehst zu weit. Es ist meine Sache, welche Aufträge ich annehme und welche nicht.“
„Und das Gleiche gilt für mich! Gute Nacht, Recha. Und leb wohl.“
„Du ebenso – einstweilen. Denn ich glaube fest, dass wir uns wiedersehen werden!“, kam es gerade laut genug, dass er es noch hören konnte.


Ende der Leseprobe


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