ERBIN DES DEANOS – ISES

Klappentext


„VERTRAUE NIEMANDEM!“

Ises lernte schon als junges Mädchen, sich
nur auf sich selbst zu verlassen: Von ihrer
Mutter an die Schuldensammlerin Recha
gegeben und zur Sucherin zu werden, prägte
ihr Leben. Daran änderte auch Rechas Tod
Jahre später nichts und weder ihre
Waffenbruderschaft mit Bero noch ihre
Freundschaft mit ihm und seiner Gefährtin
Naledi heilen die inneren Wunden.

Ises stellt sich der Vergangenheit erst,
als ihre Mutter Dermenis spurlos
verschwindet. Ihre Suche ist erfolgreich,
eröffnet jedoch auch neue Fragen.
Drängende Fragen, die sie veranlassen,
nun auch nach der Herkunft und
wahren Bestimmung des Bogens
in ihrer Hand zu forschen.
Eine Suche voller Gefahren!

***

Taschenbuch, 12 x 19 cm, 520 Seiten
ISBN 978-3-7347-0011-8

E-Book
ISBN folgt demnächst

***



Leseprobe



Schuod, jenseits des Ozeans,
in einer vergessenen Zeit ..

„Reycha? Naleydys!“

Die Stimme ihrer Mutter hatte jene Klangfärbung angenommen, die zeigte, dass ihre Geduld endgültig erschöpft war. Es brauchte einiges dazu, denn obwohl sie keine Gottähnliche war, war auch sie mit einer wahrhaft endlos scheinen-den Langmut gesegnet. Offenbar hatten sie es also beide zu weit getrieben, zumal die Feierlichkeiten anlässlich der Sonnwende anstanden; die Sonne war dem Horizont schon überaus nahe – höchste Zeit, sich umzukleiden.

Doch noch war der Wettkampf nicht vorbei – und diesmal würde sie gewinnen! Diesmal musste sie gewinnen! Die Schmach des letzten Wettstreits war nicht vergessen und schon gar nicht das stolze Lächeln ihrer Schwester, als sie, Reycha, ihren Bogen als Siegespfand hatte abgeben müssen. Ihren Bogen, das Erbe ihres Vaters!

Die Wut bohrte sich bei dieser Erinnerung erneut tief in ihre Eingeweide. Nun, heute würde das Blatt sich wenden und sie würde ihr Erbe zurückgewinnen. Der Bogen in ihrer Hand war folglich zwar nicht der ihres Vaters, aber er war neu, ebenfalls von Meisterhand gefertigt und reich verziert, noch dazu ebenfalls mit Zeichen, die jeden Schuss treffen las-sen sollten.

„Damit wird mein Bogen wieder mein sein und diesmal nehme ich mir als Siegespfand ebenfalls das, was dir das Lieb-ste ist: deine Selbstbestimmtheit, kleine Schwester!“, murmelte sie entschlossen. „Ein Jahr lang wirst du all meine Wünsche erfüllen müssen, selbst wenn sie deinen entgegenstehen! Das ist meine Rache!“

Jetzt durfte sie sich nur nicht von ihrer Mutter erwischen lassen. Nicht noch zuletzt, so kurz vor dem Ziel. Sie wäre in ihrer Ungeduld imstande, ihr den letzten Schuss schlicht zu verbieten oder – noch schlimmer – die Trophäe vorzuent-halten. Also wartete sie, bis ihre Schritte in Richtung des Gartens verklungen waren. Der Pfeil war bereits aufgelegt und sie blies den Atem aus, drehte sich um, trat aus dieser Drehung heraus hinter dem Baum hervor und spannte die Sehne, um gleichzeitig das Ziel anzuvisieren. Weder Mutter noch sonst jemand war zu sehen. Gut!

„Mein!“, hauchte sie.

Harto, ihr Kampfrichter, hatte diesmal die Symbole überall auf der Insel verteilt und sie war den anderen weit voraus. Ihr fehlte nur noch eines, um den Sieg davonzutragen: Naleydys‘ Stern, wie die anderen Symbole aufgemalt auf ein Stück Pergament, das vom sachten Windhauch leise bewegt wurde. Direkt an der Tür zu ihrem Elternhaus – wie pas-send! Nur noch Herzschläge trennten sie von ihrem Triumph, dann konnte sie Naleydys das, was sie ihr mit dem Raub des ererbten Bogens angetan hatte, heimzahlen.

Der Pfeil schnellte davon, kaum dass sie das Ziel erspäht hatte. Noch vibrierten Sehne und Bogen nach, während er unbeirrt seinen Weg auf das Symbol zu nahm. Sie grinste siegesgewiss und erwartungsfroh und rannte los, eine Hand an dem Beutel mit den übrigen, von ihren Pfeilen durchbohrten Siegeszeichen ... und stoppte abrupt, strauchelte und kämpfte schwankend um ihr Gleichgewicht. Denn schlagartig schien die Zeit stillzustehen, weil das Unmögliche ge-schehen war: Die Tür war aufgerissen worden und der Pfeil – ihr Pfeil, der stets unfehlbar ins Ziel ging! – hatte sich statt durch das Pergament und in die Tür in die Brust des jungen Mädchens gebohrt, das in der Türöffnung aufge-taucht war. Naleydys. Naleydys, die eigentlich noch drei weitere Symbole irgendwo auf der Insel hätte suchen müs-sen! Wieso war sie hier? Wieso hatte sie, die niemals gegen irgendwelche Regeln verstieß, ihrer Mutter nicht geant-wortet? Viel wichtiger aber: Wieso trug sie ihren – ihren! – Bogen und Köcher? Nicht der jüngeren Naleydys stand es zu, bei der heutigen Zeremonie mit diesen Insignien zu erscheinen, der Bogen gehörte ihr!

Das Bild ihrer Schwester in der offenen Tür bannte sie regelrecht. Das Lächeln, das gerade noch auf deren Lippen ge-legen hatte, erstarb, ebenso wie die Natur um sie herum schlagartig zu verstummen schien. Naleydys, ruckartig mit-ten in der Bewegung gestoppt, senkte den Kopf und hob die freie Hand, als ob sie den Schaft des Pfeils greifen und herausziehen wolle. Dann aber verhielt auch sie und ihr Kopf hob sich wieder, einen Gesichtsausdruck zeigend, in dem Unglaube, Fassungslosigkeit und Schmerz in rasender Abfolge wechselten.

Blut färbte ihr reinweißes Gewand rot und ihre zierliche Gestalt ging in die Knie, langsam und wie von unsichtbaren Fäden gehalten. Und obwohl ihre Stimme allenfalls ein Hauch gewesen sein konnte, hörte sie die Worte überlaut, als würden sie ihr direkt in die Ohren geschrien:

„Warum? Es ... war doch nur ... ein Pfand!“

Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfuhr sie, Reycha, ließ sie ebenfalls auf die Knie sinken, und ein unheilvolles rotes Glühen schien ihre Brust zum Bersten bringen zu wollen. Es brannte und verbrannte sie, heiß wie die lodernde Glut, die so oft aus dem fernen Berg der Nachbarinsel quoll. Und das Zeichen der Gottähnlichen an ihrem Arm brannte beinahe noch heißer als dieses Feuer in ihrem Inneren, heißer als alles, was sie je gefühlt hatte.

Ihr Schrei erstickte in ihrer Atemlosigkeit, doch der Schrei ihrer Mutter hallte umso durchdringender und entsetzter.

Und dann riss die Finsternis sie mit sich.


„Nie zuvor hat ein Angehöriger einer göttlichen Nachfolge die Hand gehoben gegen das eigene Blut! Wir haben Reycha beobachtet und wir haben dir unsere Befürchtung nicht verschwiegen, Semendamyra: Schon von Kindesbeinen an hat sie erkennen lassen, dass die Gabe der Götter nicht an sie hätte vergeben werden dürfen. Sie neigt von jeher den Ei-genschaften zu, denen eine Nachfolgerin entsagen muss: Sie ist neidisch, nachtragend und lechzt nach Vergeltung, lässt die Rechte anderer nicht gelten und glaubt, sich über diese Rechte erheben zu dürfen. Wir haben dir und deinen Bitten nachgegeben und ihr mehr Chancen gelassen als allen anderen Schülern und Schülerinnen, haben sie geprüft und wieder geprüft, auch ohne ihr Wissen. Doch die heutige Prüfung war die letzte und das Ergebnis hast du nun selbst erlebt.“

„Sie war lediglich in den Bann dieses Wettstreits gezogen, mehr nicht!“

„Du sprichst aus, was alle hier sehen, verschließt aber die Augen vor dem, was es bedeutet! Ja, Reycha war und ist in einem Bann gefangen: in einem ewigen Wettstreit. Denn wenn es nicht um den Bogen ihres Vaters geht, geht es um irgendetwas anderes. Wir haben in ihr Herz gesehen, Semendamyra, und fanden darin zu viele der Eigenschaften, die ich vorhin nannte. Sie kann nicht ausbrechen aus diesen mächtigen Gefühlen, zeigt keinerlei Anzeichen, ihnen wider-stehen zu wollen.“

„Ihr habt also ihr Herz gesehen? Das glaube ich nicht. Denn wenn dem so wäre, hättet ihr auch gesehen, dass es bloß ein Unfall war. Niemals würde Reycha ihrer Schwester beabsichtigt ein Leid zufügen! Ich war Zeugin, Weys, anders als du: Im Eifer des Wettstreits schoss sie ihre letzte Trophäe, mehr nicht! Wie hätte sie ahnen können, dass ausgerech-net in diesem Augenblick Naleydys in die Tür treten würde?“

Weys holte tief Atem, dann erhob er sich langsam aus seinem Stuhl, trat die beiden Stufen herab und auf die Mutter zu.

„Reycha handelt ständig in irgendeinem Eifer, unüberlegt und ohne die möglichen Folgen ihres Tuns abzuwägen. Vor-ausschauend abzuwägen! Wer schießt einen Pfeil ab in Richtung einer Tür, durch die jemand treten könnte? Sie hätte sich vergewissern müssen, dass niemand im Haus ist!“

„Während einer Waffenübung?“

„Du sagst es: Es war eine Waffenübung, kein Kampf oder kriegerisches Geschehen, in dem es um Leben oder Tod ging. Das hätte ihr bewusst sein müssen. Noch ein Beispiel? Ihre Trophäe der Lusor hing an einem Baum unmittelbar neben einer Wasserstelle, wo Harto diesmal gleich noch vier weitere Trophäen für alle anderen Schüler sichtbar befes-tigt oder hinterlegt hatte. Hat sie sich vergewissert, dass kein anderer Prüfling in der unmittelbaren Nähe war? Nein. Ihre Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer Unfehlbarkeit hat die Grenze zur Selbstüberschätzung längst überschritten.

Es ist jedoch das Fundament unseres Handelns, Semendamyra: Stets die möglichen Folgen zu bedenken und zu ge-währleisten, dass niemand ...“

„Spar dir das! Worte, die ich schon oft genug gehört habe“, wurde er unterbrochen.

Stirnrunzelnd beugte er sich daraufhin vor.

„Vorausschauendes Nachdenken, das Reycha vermissen lässt! Worte, die auch sie oft genug von ihren Lehrern gehört hat! Was erwartest du, sollen wir tun? Sollen wir ihr unendlich viele weitere Chancen geben, sich zu ändern und zu beweisen? Noch vor dem Morgengrauen, eigentlich noch vor der Mitternacht hätte sie als Nachfolgerin bestimmt wer-den sollen. Eine Nachfolge beinhaltet tiefe Ernsthaftigkeit, Pflichtgefühl und allem voran Entschlossenheit, der Über-macht an finsteren Bestrebungen alle innewohnende Willenskraft entgegenzusetzen! Zeigte sie diese, sei es auch nur ansatzweise? Nein. Sollen wir das Schicksal herausfordern, indem wir ihr die Nachfolge dennoch in die Hände legen? Welchen Dienst würden wir den Menschen erweisen, wenn wir das täten?

Unsere Aufgaben sind der Schutz des Volkes und die Fürsorge für alle, die unsere Hilfe erbitten oder auch nur zulas-sen. Solche Fähigkeiten können wir nur jemandem übereignen, der den Schutz und die Bedürfnisse anderer stets über die eigenen stellt.

Nein, ich gebe dir recht, der Worte sind genug gewechselt. Unsere Entscheidung war einmütig: Reycha wird der Segen der Götter entzogen. Was deine jüngere Tochter Naleydys angeht: Da sie überlebt hat, steht ihr die Nachfolge der Sterngeborenen weiterhin offen; sie kann sie in zwei Jahren erbitten, sobald sie alt genug ist.

Geh jetzt zu ihr, sie braucht dich. Der Segen mag ihre Wunde geheilt haben, doch eine andere Verletzung kann er nicht heilen, das können nur du und die Zeit.“

„Gehen? Und Reycha?“, reckte Semendamyra das Kinn. „Was werdet ihr mit ihr tun?“

„Was unsere Aufgabe ist: Wir werden ihr das Zeichen der Götter und den Segen der damit verbundenen Machtfülle entziehen und sie ...“

„Und sie von hier verbannen, richtig? Ihr werdet sie von der Insel verweisen und sie zu einem Leben als Mensch ver-dammen, fern ihrer Heimat, fern ihrer Familie!“

„Seit wann ist es eine Verdammung, als Mensch zu leben?“, mischte sich jetzt Kelea ein und erhob sich ebenfalls aus ihrem Stuhl. „Empfindest du selbst es so? Oder willst du damit sagen, dass wir unserer Aufgabe unserem Volk gegen-über nicht nachkommen? Wir entziehen ihr nicht unsere Fürsorge!“

„Ich will damit sagen, dass ihr ein junges Mädchen dazu verdammt, alles zu verlieren, das ihr etwas bedeutet!“, hob sie ihre Stimme und deutete mit dem Finger auf die totenbleiche Reycha, die wie erstarrt schräg hinter ihr in der Mitte des Kreises der Gottähnlichen stand und ihr Urteil schweigend abgewartet hatte.

„Niemand wird verdammt“, warf Weys gemessen ein. „Wir alle tragen jedoch die Folgen unserer Taten, deine Tochter ist keine Ausnahme. Nicht länger.

Reycha? Mit dem ersten Licht des neuen Tages verlässt du diese Insel. Du wirst sie niemals wieder betreten, doch wir verwehren niemandem, dich auf dem Festland zu besuchen.

Sobald du Letzteres betrittst, erlischt deine Macht, da du keine Nachfolgerin bist. Die Fertigkeiten, die du dank deines verstorbenen Vaters Deanos erworben hast, bleiben dir natürlich. Nutze sie und nutze sie weise! Dir bleibt die Chance, deinem Drang nach Rache, deinem Neid und der Wut zu entsagen, ebenso deinem Beutestolz und der unnachgiebigen Hatz, denn kein Lehrmeister ist besser als das Leben selbst. Möchtest du abschließend noch etwas sagen? Letzte Wor-te oder eine letzte Bitte?“

Erst jetzt hob Reycha den Kopf und etwas in ihren sonst so hellen Augen glomm dunkel auf.

„Letzte Worte? Ja. Eine letzte Bitte? Würde mir eine solche denn tatsächlich gewährt werden?“, erwiderte sie provo-zierend.

„Sprich. Wir werden sehen.“

Sie reckte das Kinn, reckte ihre gesamte Gestalt.

„Was Mutter sagte, stimmt: Ich hätte meiner Halbschwester niemals absichtlich etwas zuleidegetan, egal, wie heftig ein Wettstreit entbrannt wäre. Euer Urteil über mich stand jedoch offensichtlich längst fest. Wie ihr wollt. Ich bin die Tochter meines Vaters und werde nicht an meiner Verbannung zerbrechen! Ich werde im Gegenteil dafür sorgen, dass weder mein Name noch meine Herkunft in Vergessenheit geraten, vielmehr wird beides von sich reden machen, das schwöre ich! So viel dazu.

Nun zu euren Argumenten. Ihr wollt in mein Herz gesehen haben? Dazu sage ich nur, dass ihr in eure eigenen Herzen blicken solltet! Sind sie wirklich so frei von dem, was ihr mir unterstellt? Nach diesem Urteil bezweifle ich das und an-dere werden mir darin zustimmen, sobald sie meine Seite der Geschichte hören.

Die Folgen unseres Tuns tragen wir? Dann tragt fortan die eures Tuns: In mir vereinen sich die Blutlinien des Deanos und die der Sterngeborenen, da Mutter ein menschlicher Nachfahre aus entfernter Seitenlinie ist. Meine Macht sowie das Zeichen könnte mir daher nur einer nehmen: mein Vater. Doch wie ihr selbst soeben sagtet, ist er nicht mehr. Nur noch in mir und meinem Herzen lebt er fort und das hättet ihr gesehen, wenn ihr wirklich dort hinein geblickt hättet!

Aber wie schon gesagt: Euer Urteil stand längst fest. Ich werde mich dem beugen und morgen in aller Frühe wird die letzte mögliche Nachfolgerin des Deanos die Insel verlassen.“

Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und trat nun energisch vor, einen erstaunlich eisigen Ausdruck im noch so jun-gen Gesicht.

„Meine letzte Bitte äußere ich daher als seine Tochter und ich bin schon gespannt, ob ihr sie mir verwehren wollt! Ich beanspruche das mir von meinem Vater verbliebene Erbe: Seinen Bogen und die Pfeile, die er noch mit eigener Hand gefertigt und mir geschenkt hat! Wie entscheidet ihr?“

Weys hatte langsam und tief den Atem eingesogen und drehte jetzt den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, um die Entscheidungen aller Anwesenden einzuholen. Bis auf zweimaliges Kopfschütteln und eine Enthaltung nickten sie alle, wenn auch teils nach merklichem Zögern.

„Ich stimme ebenfalls dagegen, aber wir sind überstimmt. Deanos‘ Bogen gehört damit dir, doch mach dir bewusst, dass er von jetzt an kein Insigne mehr darstellt. Deine Bitte raubt den von den Göttern gesegneten Gottähnlichen da-mit eines von bislang ...“

„Ihr wart es, die soeben die letzte direkte Nachfahrin verbannt habt. Lebt damit!“, fiel Reycha ihm rüde ins Wort, trat auf den Tisch zu, auf dem der Bogen ihres Vaters nebst vollem Köcher lag, und nahm beides an sich.

Weys sog erneut tief den Atem ein, dann nickte er mit schmalen Lippen.

„Es ist entschieden. Und du hast dich entschieden, wie es scheint. Verlass nun diese Rotunde, die Zeremonie wartet. Du hast Zeit bis zum ersten Morgengrauen, um dich von allen zu verabschieden und deine Habseligkeiten zu packen. Was immer du mitnehmen möchtest, um dein Leben auf dem Festland einzurichten, wird dir ...“

„Was ich brauche, habe ich nun. Es gibt nichts, was ich von euch oder irgendwem noch würde haben wollen, und es gibt niemanden mehr, von dem ich mich verabschieden müsste! Naleydys weiß bereits, dass ich mein Ungeschick be-dauere, und anders als ihr, insbesondere anders als ihr beide, Weys und Kelea, hat sie mir vergeben. Sie weiß, dass es ein Unfall war und keine Absicht. Mutter weiß dies ebenfalls, denn sie war Zeugin dessen, was geschah und was hier entschieden wurde. Unser Abschied wird daher nur wenige Worte brauchen. Damit ist alles gesagt.“

Sie wandte sich ab, ohne den Kopf ehrerbietig geneigt zu haben, nickte ihrer Mutter lediglich kurz zu und schickte sich an, die offene Säulenhalle zu verlassen. Dann jedoch hielt sie noch einmal inne, als Semendamyra das Wort ergriff.

„Ihr setzt wahrhaftig euren Willen durch? Nun, dann hört auch meinen Willen: Ich werde meine kaum erwachsene Tochter nicht alleine gehen lassen! Nicht in ein Leben, das sie nicht kennt! Wenn ihr nicht länger Gerechtigkeit, maß-volle Nachsicht oder wenigstens Vergebung übt, ist meines Bleibens hier nicht länger. Wenn Reycha geht, gehe ich mit!“

„Ein ähnlich kurzsichtiges Verhalten. Das solltest du dir noch einmal ...“

„Nein!“, fuhr sie Weys über den Mund. „Auch mein Wort gilt! Reycha, wir gehen! Wenn Gottähnliche das, was sie den Menschen zugesagt haben, nicht einmal mehr ihresgleichen gewähren, sind wir bei den Menschen besser aufgehoben. Sie werden erfahren, was ihr hier und heute entschieden habt. Aus meinem Mund und bis ich eines Tages meine Au-gen für immer schließe. Ihr seid es, die sich den Menschen entfremden, nicht umgekehrt, und ich bin schon gespannt, wie viele von ihnen nun noch den Weg hierher suchen werden, um euren Rat einzuholen! Den Rat der Gottähnlichen, deren Herzen verhärtet sind, wo sie hätten vergeben sollen und deren Wille und Urteil bereits in Stein gemeißelt war, bevor sie die Mühe aufgewandt hätten, lehrend, belehrend und Vorbild zu sein!“

Das Tappen ihrer Füße verhallte in der eingetretenen Stille und das Schweigen der Nachfolger hielt an, bis ein unge-wöhnlich kalter Luftzug vom Meer her durch die Halle strich.

„Haben wir richtig entschieden?“, ließ sich Kelea hören, die nun wieder in ihren Stuhl sank. „In Semendamyra vereint sich noch immer das Blut der Sterngeborenen mit dem der Rachegöttin. Ein Erbe, das in dieser Tochter wieder zutage tritt. Durften wir ihnen das verschweigen? Haben wir richtig gehandelt, als wir damit Deanos‘ Bitte entsprachen? Rey-cha? Du bist die gottähnliche Nachkommin und hast bisher dazu geschwiegen, auch zu ihren Worten.“

Die weißhaarige Nachfolgerin der Rachegöttin regte sich und stieß kopfschüttelnd einen tiefen, langen Seufzer aus.

„Semendamyras ältere Tochter trägt den Namen meiner Göttin nicht zu Unrecht und einmal mehr frage ich mich, ob Deanos mit dieser Namenswahl damals nicht ein Omen heraufbeschworen hat.

Ich habe zu ihren Worten geschwiegen, um ihre Auflehnung nicht noch weiter anzustacheln, Kelea. Wie sie es die vie-len Male, bei denen ich ihr ins Gewissen geredet oder ihr Ratschläge gegeben habe, ebenfalls schon sehen ließ. Sie war unbelehrbar. Vermutlich hätte ihr nur Deanos selbst noch helfen können ...

Ihr wollt meine Meinung hören? Wir alle wissen, wie inbrünstig sie sich nach Deanos‘ Heimgang in den Götterschlaf dessen Nachfolge herbeigesehnt hat, um sich von da an als Deana, der weiblichen Manifestation und Namensträgerin, in unseren Rat einreihen zu können. Vordergründig, denn wir alle wissen ebenfalls, dass sie ihre Entschlossenheit und Willenskraft für die falschen Wesenszüge und Ziele einsetzte.

Ich habe Verständnis für sie, denn sie ist jung und niemand kann besser nachvollziehen als ich, wie schwer es sein kann, dem Rachedurst und Gefühlen wie Wut und Hass zu widerstehen, doch auch ich habe gegen sie gestimmt. Dea-nos war ihr Vater und er hat ihr schon früh deutlich gemacht, dass die dunklen Seiten uns allen innewohnen. Aus-nahmslos. Also: Nein, wir haben keinen Fehler gemacht, indem wir Deanos‘ Bitte entsprachen. Sieht dies überhaupt jemand anders?“

„Ich fürchte, das wissen nur die Götter!“, murmelte Sufora, warf einen Blick auf die Nachbarinsel, die auch in dieser Nacht vom Glühen des heißen Stroms aus dem Berg beleuchtet war. In einer unbewussten Geste strich sie sich gleich-zeitig über das schlangenförmige Mal an ihrem Arm. „Racheeifer, Anmaßung und Überheblichkeit dürfen jedoch keine Wurzeln in uns schlagen.“

„Dann lasst uns hoffen, dass die Rache sich nicht eines Tages rächt!“, erwiderte Kelea und folgte ihrem Blick. „Die Götter mögen uns beistehen!“


Das flache Auslegerboot legte im ersten rosigen Schimmer des nahenden Morgens in aller Stille und Heimlichkeit ab. Und als es im Licht der aufgehenden Sonne am steinigen Ufer des Festlands anlandete und Reycha den Fuß in die seichte Meeresbrandung stellte, glomm das Mal des Deanos‘ an ihrem Arm auf. Mit einem scharfen Brennen verblasste es binnen eines einzigen Herzschlags zu einem kaum mehr sichtbaren Zeichen. Übrig blieb nur mehr eine einem Bo-gen ähnelnde Narbe mit einem feinen Strich, der senkrecht durch die Mitte führte.

Semendamyra ächzte bei diesem Anblick, doch Reycha lächelte grimmig. Sie hatte recht behalten. Die Gottähnlichen mochten ihr mit dem Segen auch die Nachfolge genommen haben, doch das Zeichen hatten sie ihr nicht vollständig nehmen können. In ihrem Blut floss das Erbe des Gottes der Jagd und dank Semendamyra auch das der heilenden Sterngeborenen, wenn es auch nur noch wenige Tropfen sein mochten. Und das Erbe einer dritten Göttin!

„Tröste dich, Mutter, Vaters Erbe wird weiterbestehen. Und die Rache für das, was sie mir und damit ihm angetan haben, wird nicht vergessen! Ich mag nicht den Pfeil der Rachegöttin tragen, doch ich trage ihren Namen. Und mit dem Pfeil in Deanos‘ Bogen lebt auch etwas von ihrem Symbol in mir fort ... Nenn mich also weiterhin Reycha, aber nenn mich künftig auch bei meinen neuen Beinamen: Deana Ises. Ich bin Reycha Deana Ises von Schuod.“

„Ises? Die Bogenträgerin?“, kam es eigenartig erstickt.

„Ja. Vater hat mich nach meiner Geburt nicht nach ihr oder sich benannt, aber ich bin seine Erbin, jetzt mehr denn je“, hob sie ihren Bogen an und betrachtete die Verzierungen – Symbole, die ihr Vater noch eigenhändig hineinge-schnitten hatte. Symbole eines Gottähnlichen, mächtiger als alle, die ein gewöhnlicher Sterblicher hätte schneiden, meißeln oder niederschreiben können.

„Und nun komm. Lass uns gehen und eine Unterkunft suchen. Danach werden wir überlegen, ob wir nicht all dem hier den Rücken kehren, auch dem Anblick der Inseln!“

„Und wo sollten wir hingehen? Sollen wir nicht wenigstens warten, bis sie meine Habe gebracht haben? Womit sollen wir unsere neue Wohnstätte einrichten?“

„Hast du schon jetzt Angst vor deinem eigenen Mut bekommen, Mutter? Dann lass mich dich beruhigen: Solange du bei mir bist, werde ich für dich sorgen. Wohin wir gehen sollten? Kelea erzählte mir einmal von einem Land jenseits des Meeres, weit von hier entfernt. Ein Festland, wohin sich schon andere deines Volkes begeben haben. Unseres Volkes. Mit Schiffen, größer als alle Schiffe, die die Inseln ansteuern. Meinetwegen warten wir auf deine Habe, dann aber folgen wir meinem Pfad ... Ich sehne mich danach, ganz neu zu beginnen.“



Kapitel 1


„Hallo Mutter.“
Die Gestalt, die soeben vor der Feuerstelle in die Hocke ging, um Scheite in die kleiner werdenden Flammen zu schie-ben, erstarrte. Nur für einen Moment zwar, aber es genügte, um mir zu zeigen, dass es nicht der Schreck war, so plötzlich angesprochen zu werden. Offenbar fühlte sie sich hier überaus sicher. Dennoch schob ich eine entsprechende Entschuldigung nach.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Die Tür war offen und du nicht da, also bin ich hereingekommen, um nicht im Nachtdunkel auf dich zu warten.“
„Ich bin nicht erschrocken, ich bin verärgert. Auf mich gewartet? Wohl eher mir aufgelauert! Wieso bist du gekom-men? Und vor allem: Wie hast du mich gefunden?“, kam die abweisende Antwort.


Ende der Leseprobe

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